Der renommierte Genetiker spricht mitSimon Book und Claudia Panster darüber,wie Firmen die Talente von morgenfinden können und warum Europaschnell handeln muss.
Ein Glück, dass die Behördennicht so genau hingeschauthaben: Es ist heiß in Wien, einerder letzten Sommertage,36 Grad – doch aus dem Arbeitszimmervon Markus Hengstschlägerweht eine kühle Brise. Der Chef desInstituts für Medizinische Genetik derUni Wien hat das mehr als hundert Jahrealte Gebäude verbotenerweise mit einermobilen Klimaanlage ausgestattet, umauch bei Hitze klar denken zu können.Nur in einem Raum geht das noch besserals in seinem Büro – im altehrwürdigengroßen Hörsaal. Dahin bittet derProfessor zum Gespräch.
Herr Professor Hengstschläger, Sie sindGenetiker. Dennoch beschäftigen Siesich seit Jahren auch mit wirtschaftlichenund soziologischenThemen, etwamit Europas Talenten. Warum?
Fangen wir mit der persönlichen Motivationan. Es ist mein Beruf, Patientenzu betreuen, zu forschen und jungeMenschen zu unterrichten. Danebenbin ich auch noch Unternehmer. Undsowohl im Hörsaal als auch in einer Firmamuss man sich überlegen: Was sinddas für Leute, die da vor mir sitzen, diesich vorstellen? Wer ist wofür der Beste,wie finde ich die Besten, und wie macheich die zu richtigen Freaks?
Und was interessiert den Humangenetikeran Talenten?
Ein Großteil dessen, was die Menschensich unter Talent vorstellen, ordnen siemeinem Fach zu. Das hat mich schonverblüfft. Sie sagen oft: Ein Talent, dashat man, oder man hat es nicht. Daskommt vom Vater, von der Mutter, vonOpa, Oma. Dass Lionel Messi so gutFußball spielt, das ist eben auch einThema seiner Gene.
Stimmt das denn?
Ich erzähle Ihnen eine Geschichte.Konrad Lorenz, der letzte österreichischeMedizin-Nobelpreisträger, hatden Preis unter anderem für solche Beobachtungenbekommen: Er hat in einNest mit vier Hühnereiern ein Enteneigelegt. Die Henne – im Glauben, es wärenfünf Hühnereier – hat sie alle ausgebrütet.Es schlüpfen also vier Kükenund ein Entlein. Sie haben alle geglaubt,sie sind dasselbe. Am nächstenTag ist das Entlein aus dem Nest gehüpftund Richtung Teich gelaufen zumSchwimmen. Die Hühnermutter warvöllig panisch, hat das Entlein überholtund zurück ins Nest geholt. Sie dachtewohl: „Du bist ein Huhn, und Hühnerkönnen nicht schwimmen.“
Und was hat Lorenz dann gemacht?
Er hat Folgendes beobachtet: Am Tagdarauf hüpft das Entlein ins Wasser, ohnedass die Henne es aufhalten kann.Und siehe da: Es kann schwimmen. EinEntlein kommt genetisch mit dem Repertoireauf die Welt, schwimmen zukönnen – auch wenn es ihm niemand jegezeigt hat.
Also ist Talent angeboren?
Alle Menschen sind genetisch zu mehrals 99 Prozent gleich, vielleicht nur 0,1Prozent sind individuelle genetischeLeistungsvoraussetzungen. Da unterscheidenwir uns. Bei der Größe zum Beispiel, beim Geschlecht, bei der Augenfarbespielen Gene eine große Rolle.
Und bei Intelligenz, Aggressionsverhaltenoder Teamfähigkeit?
Da ist das eher nicht so – da rücken dieGene schon ordentlich in den Hintergrund.Die 0,1 Prozent genetischenLeistungsvoraussetzungen sind alsonichts wert, wenn wir sie nicht entdecken und durch üben, üben, üben einebesondere Leistung daraus entwickeln.
Vorausgesetzt, man übt genau das, woman genetisch schon ein Talent hat.
Das wäre natürlich das Coolste. Stärkenstärken – und auf keinen Fall ein Lebenlang das üben, wo man Schwächen hat.Natürlich kann ich als Firmenchef sagen:Ich habe Leitlinien entwickelt undVorgaben und Ziele, die alle Mitarbeitererreichen müssen. Aber es wird micheinen Haufen Zeit und Arbeit kosten,alle in der Firma auf dasselbe Level zubringen – das ist dann Mittelmaß.
Was macht stattdessen der Genetiker?
Ich habe den Anspruch, die vorhandenenTalente und das Üben möglichst zukorrelieren. Unser Bildungssystem aberversucht ständig, bei den jungen Menschenihre Schwächen auszumerzen.
Also sage ich meinem Kind:Vergiss Mathematik,Geografie und Englisch,wenn du das nicht kannst, und konzentrieredich auf Kunst?
Es braucht natürlich einen gewissenGrundstock an Allgemeinwissen bei jedem.Aber eines ist klar: Erfolg und Innovationenhat Europa dann wiederwirklich, wenn man der nächsten Generation erlaubt, in den Bereichen, wosie nicht so gut ist, auf all das zu verzichten,was nicht unbedingt notwendigist. Sonst raubt man ihnen die Zeit,sich auf das zu konzentrieren, wo siewirklich was können.
Dazu gibt es doch Universitäten.
Und was ist die Voraussetzung für dasStudium? In Deutschland zum Beispieloft die Abiturnote. Deshalb sollten wirviel früher mit der Talententwicklunganfangen, schon vor und dann in der Schule. Nachdem jeder eine gewisse Allgemeinbildunghat, konzentriert er sichauf das, was er wirklich kann und will.
Wie müsste man das Schulsystem dafürkonkret umbauen?
In dem Wissen, was die Bildungsstandardssind, sollten wir uns auf die Suchemachen nach dem Besonderen.Mit Hilfe von Scouting. Wir treiben dasganze Bildungssystem weiter in den Bereichen,wo die Bildungsstandards erreichtwerden müssen. Aber dannmuss das Kind in Mathe halt nur so vielwissen, wie man gerade braucht, undnicht „gleich“ gut sein wie die anderen – wenn ein anderes Fach seines ist.
Man müsste also neben dem Lehrer jemandenhaben, der nur damit beschäftigtist, nach Talenten zu schauen und siezu fördern?
Genau so würde ich es gestalten. Odersie verlassen sich aufs Vereinswesen inder Freizeit und hoffen, dass die Talentein allen Bereichen fördern. Das halte ichaber für ziemlich unwahrscheinlich undaußerdem nicht für sozial gerecht.
Gibt es denn nicht auch ein Recht darauf,sein Talent nicht zu nutzen?
Das gibt es schon, ja. Aber nur in demGegendeal, etwas anderes zu machen.Es geht nicht, gar nichts zu machen.Auch in den sogenannten bildungsfernenSchichten stecken Riesentalente.
Mal angenommen, das klappt: Dann habenwir ja eine komplett arbeitsteiligeGesellschaft von lauter Experten.
Es ist zum Beispiel auch ein wichtigesTalent, Generalist zu sein und die verschiedenen Fachrichtungen zusammenzubringen.Das ist auch eine eigeneSpitzenleistung für mich.
Also machen wir das Studium Generalezum eigenen Studienfach?
Warum nicht?Da tun wir dann von allemetwas rein. Und der Generalistmuss nicht in Biologie Platz eins seinund nicht in BWL. Aber in der Kombinationvon beiden muss er spitze sein,nicht Durchschnitt. Topmanager sind jaheute genau das.
Was aber, wenn einer immer trainiert,um der beste Atomphysiker zuwerden– und wenn er der Beste ist, will keinermehr Atomkraftwerke haben?
Im Moment sagen ja alle, wir brauchenLeute in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft,Technik. Wenn also einerLehrer werden will für Kunst, weiler dafür ein Talent hat, sagt man ihm: Mach doch lieber Naturwissenschaften,das wird gebraucht. Das ist kurzfristiggedacht und sicher nicht visionär. DieZeiten ändern sich, und das Veränderungsausmaßsteigt exponentiell – und dann braucht man plötzlich etwas ganzanderes. Glauben, die Zukunft zu kennen,ist gefährlich und auch noch oftVerschwendung der wichtigsten RessourceEuropas – der Individualität seiner Talente.
Jetzt werden Sie ja richtig emotional.
Als ich mit dem Studium der Genetikbegonnen habe, in den 1980er-Jahren,da gab es auch Stimmen wie: Genetikerbraucht kein Mensch, du bist verrückt,wenn du das studierst. Heute brauchen wir Genetik mehr denn je, Wien entwickeltsich zu einer der Life-Science-Hochburgen Europas. Ich glaube, dasswir von der Hälfte aller Jobs, die es in 20Jahren gibt, den Namen heute noch gar nicht kennen. Wir brauchen Leute, dieneu denken, nur so entsteht Innovation,und nur so kann Europa im globalenWettbewerb bestehen.
Okay. Mercedes hat das Auto erfunden.Aber nur durch die Konkurrenz zuBMW wird es doch immer besser.
Dagegen habe ich auch gar nichts. Undnatürlich hat BMW auch eine Menge Innovationengeliefert. Aber für die großenSprünge wie das Auto an sich müssenwir neue Wege gehen, nicht die alten Pfade immer besser nutzen. Undnebenbei: Die Zeit des Autos ist absehbarvorbei – wir brauchen eine neueIdee für Fortbewegung. Mal schauen,ob die von Mercedes, BMW oder einemDritten kommt.
Hat denn jeder die Möglichkeit, ein Ausnahmetalentzu werden?
Absolut. Der Österreichische DichterPeter Rosegger hat sinngemäß gesagt:„Jeder Mensch hat Talent, nur das Lichtder Bildung und der harten Arbeitbringt es zum Vorschein.“
Wie also können Unternehmen Talenteerkennen und fördern?
Wenn jemand schon sein Talent erkannthat und einen ersten Schritt indiese Richtung gegangen ist, dann istdas Lob der beste Motivator. Wenn sieso jemanden immerzu anspornen, istdie Wahrscheinlichkeit hoch, dass er etwasaus seinem Talent macht und neudenkt. Das ist übrigens genau das, wasbestimmte Firmen heute machen,wenn ihre Mitarbeiter ein Viertel der Arbeitszeitdazu verwenden dürfen, aufneue Gedanken zu kommen – das istder Ansporn, mit seinen Talenten neueWege zu gehen. Wer neue Wege gehenwill, muss die alten verlassen.
Klingt einfach. Was aber mache ich alsUnternehmer,wenn meine AngestelltenTalente haben, die ich nicht brauche?
Ein Unternehmer, derPersonalentscheidungentreffen muss, hat sich dieFragen zu stellen: richtige Zeit, richtigerOrt, richtige Person?
Auch auf die Gefahr hin, ein Talent zuverlieren?
Wenn ich einen Torwart suche, kann ichnicht einen Stürmer einstellen. Es seidenn, er ist besser als mein bisherigerStürmer. Dann würde ich gerne die Gelegenheitnutzen, mir den besten Stürmerzu nehmen – und das bei meinembisherigen Stürmer ganz offen anzusprechen.Das Torproblem ist damitaber nicht gelöst.
Wie managt man das im Alltag, in einemUnternehmen?
Oft läuft es doch so: Wir wissen, was wirbrauchen, wir haben einen Rahmen, derPersonalchef macht genaue Vorgaben:ein Erasmus-Semester, das und dasmuss studiert sein, das ist das Kostüm, das getragen werden muss, das ist dasGolfhandicap, das sind die Typen, diewir brauchen. Da kann keine Innovationentstehen. Umso mehr ich durch Gleichmachereidafür sorge, dass alle identischsind, desto höher ist das Risiko, dass keineneuen Fragen gestellt werden.
In der Konsequenz müssten die Unternehmenalso alle Assessment-Centerüber Bordwerfen undversuchen, maximaldie gesamte Bandbreite der Gesellschaftabzudecken.
Wenn man heute sagt, es reicht mirnicht, wenn meine Leute starren Vorgabenentsprechen, ich brauche Peaks undFreaks, dann ist das ein Fortschritt. Wasmich stört, ist die Gleichmacherei am Durchschnitt. Denn dann sagt man:Wenn du Durchschnitt bist, ist alles inOrdnung, dann kann dir nichts passieren.So sterben Innovationen aus, und siehaben gleichzeitig ein unglaubliches Risiko,dass bei einer einzigen Umweltveränderungdie ganze Firma ausstirbt, weil jaalle gleich denken und handeln. Ein Unternehmenist nicht gut aufgestellt, wennes nur die gegenwärtigen Probleme löst.
Haben wir denn genug solcher Köpfe imMoment, genug Peaks und Freaks?
Aber auf jeden Fall! Diese junge Generation,die ich gerade unterrichte, die istGold wert. Die Voraussetzungen, wennman es richtig macht, sind meiner Meinungnach sogar grandios.
Warum beschweren sich Unternehmendann so oft, dass sie nicht die richtigenLeute finden?
Es funktioniert nicht so, dass man sagt,die müssten da sein und ich hole sie ab.Sondern wir alle müssen uns fragen, wasman tun muss, damit sich die richtigenTalente wieder generieren. Die Wirtschaftund Industrie muss sich auchganz aktiv einbringen, um die Chancender nächsten Generation für die Entdeckungihrer Talente zu steigern.
Haben Talente nicht auch eine Eigenverantwortung,sich selber zu entwickeln?
Jein. Würde komplette Chancengleichheitbereits existieren, hätten alle Menschendie gleichen Zugangschancen unddie gleiche Unterstützung und es würdenur an der eigenen Faulheit liegen, dasssie sie nutzen oder nicht, dann schon.Dann könnte man die Spreu vom Weizensehr wohl nur durch Fleiß, Konsequenzund Konstanz trennen. Aber dawir im Moment noch zu große Startunterschiedein unserer Gesellschaft haben,ist diese Diskussion verfrüht. Herr Hengstschläger, vielen Dank für dasInterview.